Ein Dorf soll verschwinden – und bleibt doch
Alt-Bützenich ist leer und verlassen. Nachts schaut hier ein Sicherheitsdienst nach dem Rechten. Es war beschlossene Sache, dass die Häuser und die Kirche dem Tagebau weichen müssen. Dann bringt die Klimawende neue Hoffnung: Das alte Dorf darf doch bleiben. Die einst eingeschworene Dorfgemeinschaft hat sich mit dem Umzug nach Neu-Bützenich aber längst zerstreut. Als Dr. Christian Franzen (Leopold von Verschuer), der Arzt des Ortes, informiert wird, dass in sein leerstehendes Haus eingebrochen wurde, macht er sich sofort auf den Weg – kehrt jedoch nicht mehr nach Hause zurück. Seine Frau Betje (Lou Strenger) wendet sich an die Polizei, die ihren Mann tot auffindet. Er wurde im alten Dorf erschossen. Bei den Ermittlungen lernen die Kommissare Max Ballauf und Freddy Schenk eine zerrissene Gemeinschaft kennen, und finden heraus, dass Franzen – obgleich einziger Mediziner im Dorf – nicht viele Freunde hatte.
Neben Bär und Behrendt sind auch Roland Riebeling als Ermittler Norbert Jütte, Tinka Fürst als Kriminaltechnikerin Natalie Förster, Joe Bausch als Rechtsmediziner Dr. Roth und Juliane Köhler als Psychologin Lydia Rosenberg wieder dabei.
In weiteren Rollen: Barbara Nüsse, Peter Franke, Leonard Kunz, Jörn Hentschel, Daniela Wutte, Uta Maria Schütze und Ferhat Kaleli
«Abbruchkante» erhielt ein überragendes Presseecho. Noch bis 26.09.2023 ist der Tatort in der ARD-Mediathek verfügbar.
Zur Entstehung des Drehbuchs
Für den Kölner Tatort waren Eva Zahn und Volker A. Zahn viel vor Ort im Braunkohlerevier und haben zahlreiche Gespräche mit Betroffenen geführt. «Abbruchkante» erzählt von der Zerstörung, die eine rücksichtslose Politik hinterlässt – beim Menschen wie bei der Natur.
Eva Zahn und Volker A. Zahn berichten in einem Interview mit dem WDR von ihrer Arbeit an der Produktion:
Welchen Einfluss hat das Leben an der „Abbruchkante“ für die Menschen in Alt- und Neu-Bützenich?
Volker A. Zahn: Unser ‚Tatort‘ erzählt von Menschen, die seit vielen Jahren im Ausnahmezustand leben. So gnadenlos wie sich die Schaufelbagger durch die Landschaft fressen, so nachhaltig haben Zukunftsängste und der drohende Heimatverlust auch Verwüstungen in den Seelen vieler Bewohner:innen von Bützenich hinterlassen. Eine über Generationen gewachsene Dorfstruktur wurde geschleift, Nachbarschaften wurden auseinandergerissen, Familien haben sich entzweit, und Orte, die eng mit persönlichen Erinnerungen verknüpft sind, drohen für immer im großen Baggerloch zu verschwinden. Hinzu kommen zwischenmenschliche Verwerfungen im Zuge der Umsiedlung: Die Spaltung der Dorfgemeinschaft in Widerständler und Mitmacher, der Kampf um die besten Bauplätze im neuen Dorf, die Verzweiflung derer, die alles aufgegeben haben und jetzt hilflos realisieren, dass die Bagger das Dorf doch verschonen.
Eva Zahn: In unseren Figuren haben wir versucht, diese psychische und soziale Ausnahmesituation zu spiegeln: Die Tragik des alten Ehepaars, das im neuen unwirtlichen Dorf seinen Lebenswillen verliert, die Erschöpfung derjenigen, die seit Jahren erbitterten Widerstand leisten und sich jetzt resigniert fragen, ob der Preis, den sie bezahlt haben, nicht viel zu hoch war, der findige Arzt und Einflüsterer, der aus dem Heimatverlust ein Geschäft macht, der verlorene junge Mann, der zu exekutieren hilft, was seine Großeltern, die er über alles liebt, in den Abgrund reißt. Kurzum: Wir erleben exemplarisch im fiktiven Bützenich, ob alt oder neu, eine zerrissene Gesellschaft, eine Gemeinschaft, die keine Orientierung mehr hat und – ihrer Wurzeln und Erinnerungsstätten beraubt – so verwirrt in eine ungewisse Zukunft torkelt, als habe sie eine kollektive Alzheimer-Erkrankung befallen.
Alt- und Neu-Bützenich ist ein Schauplatz, an dem jeder jeden kennt. War dieses Setting für diesen Film für Sie von Anfang an gesetzt?
Eva Zahn: Ja, wir sind in den letzten Jahren des Öfteren ins rheinische Braunkohlerevier gefahren, haben vor Ort viele Gespräche geführt und waren jedes Mal von dieser seltsamen Atmosphäre dort fasziniert. Wunderbare Vierkanthöfe, tolle historische Wohnhäuser, prächtige Kirchen, wunderschöne Gärten: dem Untergang geweiht. Ganze Wohnstraßen mit Eigenheim-Träumen aus dem letzten Jahrhundert: verrammelt, vergammelt, teilweise demoliert. Dazu die Camps der Aktivist:innen im Wald, der Sicherheitsdienst, der mit seinen Pick-ups durch die Dörfer brettert. Und auf der anderen Seite diese wunderlichen neuen Dörfer: Ohne durchdachtes Konzept in die Landschaft gewürfelt, sehr Steingarten-affin, eine bizarre architektonische Kraut- und Rüben-Veranstaltung.
Volker A. Zahn: Und das alles im Schatten einer geradezu irrsinnigen Landschafts- und Naturzerstörung. Diese seltsame Mischung aus Alt und Neu, aus Resignation und Rebellion, dieses beinahe postapokalyptische Ambiente, diese mysteriöse Stimmung wie aus einem David Lynch-Film hat uns als Schauplatz für ein Drama schon lange gereizt. Wir wollten von dieser Abbau-Thematik erzählen, ohne einen Themen-‚Tatort‘ zu machen, in dem sich die Protagonist:innen energie- und umweltpolitische Argumente um die Ohren hauen, die man in der Zeitung oder bei Wikipedia nachlesen kann. Uns ging es um die tieferen Verletzungen, die dieser Raubbau an Mensch und Natur anrichtet.
Auch bei „Hubertys Rache – Ihrem ersten Drehbuch für den „Tatort“ aus Köln – spielte der Drehort mit dem Ausflugsschiff auf dem Rhein eine zentrale Rolle. Worin liegt der Reiz, Ballauf und Schenk nicht im gewohnten Großstadt-Setting ermitteln zu lassen?
Volker A. Zahn: Nichts gegen das Großstadt-Setting! Die letzten beiden Kölner ‚Tatorte‘, ‚Spur des Blutes‘ und ‚Schutzmaßnahmen‘, haben die Stadt wunderbar in Szene gesetzt. Aber es macht eben auch Spaß, die Helden aus ihrem angestammten Revier herauszuholen. In Köln sind sie mit den Menschen und Sitten vertraut, die Ermittlung dort ist ein Heimspiel. Im Braunkohlerevier müssen sie erst mal kapieren, wie die Leute ticken und nach welchen Regeln hier gespielt wird. Erzählerisch hat so eine milde ‚Fish out of water‘-Situation immer einen großen Reiz.
Eva Zahn: Wichtig war uns auch, unsere Helden – vor allem Ballauf – in dieser beinahe entrückten Atmosphäre an der Abbruchkante auf möglichst unaufdringliche Weise mit Selbstzweifeln zu konfrontieren. Lost in Bützenich! In unserer Geschichte geht es ja immer auch um die Frage, was die Menschen glücklicher macht: Das Festhalten am Bewährten oder das Abenteuer eines Neustarts. Freddy Schenk ist durch seine Familie geerdet und sieht wenig Änderungsbedarf. Aber in Max Ballauf, dem Lonesome Wolf, löst die Verlorenheit und Orientierungslosigkeit der Menschen in Bützenich etwas aus, er fühlt sich ihnen auf seltsame Weise verbunden. Sein Mut, Neues zu wagen, hält sich allerdings in Grenzen. Oder wie Max Ballauf es sinngemäß ausdrückt: Ich hab Schiss, dass mein bisheriges Leben abgebaggert wird und ich nach Neu-Ballauf ziehen muss!