Ein Schatz an Geschichten: «Charité»

«Charité»: eine historische Mini-Serie über das wohl berühmteste Krankenhaus der Welt. Dorothee Schön und Sabine Thor-Wiedemann haben nicht nur die Drehbücher geschrieben, sondern das Projekt erfunden. Nach langem Vorlauf – die ersten Ideen stammen aus dem Jahr 2008 – haben sie Mitstreiter gefunden, und der Sechsteiler konnte realisiert werden: Produziert von Ufa Fiction (Benjamin Benedikt, Nico Hofmann, Markus Brunnemann) für die ARD Degeto/MDR (Redaktion Johanna Kraus, Jana Brandt), Regie Sönke Wortmann, Kamera Holly Fink. Darsteller: Justus von Dohnányi, Mathias Koeberlin, Alicia von Rittberg, Christoph Bach, Ernst Stötzner u.v.a. Gedreht wurde in Prag, in einem ehemaligen Heim für Kriegsversehrte.

Szene aus «Charité»
© ARD / Nik Konietzny

Die Autorinnen Dorothee Schön und Sabine Thor-Wiedemann über Wahrheit und Fiktion in ihrer historischen Serie:

Eine Klinik, die seit 300 Jahren besteht - was für ein Schatz an Geschichten! Im Jahr 2008 begannen wir, uns für die Historie der Charité zu interessieren. Da waren wir noch optimistisch, dass es uns möglich sein würde, bis zum Jubiläum der weltberühmten Klinik 2010 ein Filmprojekt zu realisieren. Doch aus den geplanten zwei Jahren wurden neun, und aus der angedachten Doku-Fiction wurde eine veritable Spielfilmserie. In ihr werden nicht 300 Jahre erzählt, sondern nur die Zeit rund um das Dreikaiserjahr 1888 – aber das hat es in sich.

Warum gerade diese kurze Phase der Klinikgeschichte? Zum einen kreuzten sich damals an der Charité die Wege von vier bahnbrechenden Forschern – Rudolf Virchow, Robert Koch, Emil Behring und Paul Ehrlich. Drei spätere Nobelpreisträger und ein «Gottvater der Medizin» (Virchow), menschlich grundverschieden und ehrgeizige Konkurrenten um Ruhm, Geld und Ehre. Zum anderen steht dem wissenschaftlichen Höhenflug der Charité die brutale Wirklichkeit eines Armenkrankenhauses entgegen, das am Ende des 19. Jahrhunderts so marode war, dass sogar die neu gegründeten Krankenkassen öffentlich zum Boykott aufriefen. Die Klinik verfügte weder über elektrisches Licht, noch über fließendes Wasser. Geheizt wurde mit Torf und operiert bei Gaslicht, nachts auch bei Kerzenschein. Für die zwanzig Patienten eines Krankensaals gab es ein gemeinsames Plumpsklo in einem Wandschrank. Kein Wunder, dass sich die Reichen und Mächtigen der Zeit vorzugsweise zu Hause behandeln ließen. Auch diagnostisch und therapeutisch war das meiste noch unbekannt, was heute die medizinische Versorgung ausmacht: Das Röntgen war noch nicht erfunden, Antibiotika und Bluttransfusionen waren unbekannt, ebenso die intravenöse Verabreichung von Medikamenten. Narkose und Desinfektion steckten noch in den Kinderschuhen. Die Sterblichkeit auf der Säuglingsstation der Charité lag bei 60%.

Die Aufnahmebücher der Charité belegen, dass rund 90 Prozent der Patienten damals keine dreißig Jahre alt waren. Ganz im Vordergrund standen Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Diphtherie, Syphilis, Typhus und Cholera. In den Zeitungen spekulierte man darüber, dass nach einem Sieg über die Infektionskrankheiten der Mensch das ewige Leben haben müsste, denn bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 35 Jahren waren Krebs und Herz-Kreislauferkrankungen Raritäten. Der Alltag in dieser Klinik erzählt also viel über die gesellschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse der frühen Kaiserzeit.

Bei unseren Recherchen stießen wir dann auf viele spannende Details aus dem Leben der historisch verbürgten Figuren, die wir besser gar nicht hätten erfinden können. Der medizinische Star seiner Zeit, Robert Koch, erlebte mit seinem vermeintlichen Wundermittel «Tuberkulin» einen schwindelerregenden Aufstieg und dann einen jähen Absturz, während das Privatleben des verheirateten Sechsundvierzigjährigen durch die Affäre mit der siebzehnjährigen Künstlermuse Hedwig Freiberg in schwere Turbulenzen geriet. Kochs junge Assistenten, Paul Ehrlich und Emil Behring, entwickelten unterdessen zwar erfolgreich ein Heilmittel gegen die bis dahin oft tödlich verlaufende Diphterie, doch menschlich war ihre Zusammenarbeit höchst problematisch: Ehrlich litt nicht nur unter dem zunehmenden Antisemitismus der Zeit, sondern auch unter der manisch-depressiven Erkrankung seines Kollegen Behring. Und Virchow, der streitbare Altmeister der Pathologie, spielte eine entscheidende Rolle in der Krankengeschichte Kaiser Friedrichs und bei der Entzauberung von Kochs Wundermittel «Tuberkulin». Und dass ausgerechnet Arthur Conan Doyle, Arzt und Erfinder von «Sherlock Holmes», nach einem Besuch an der Charité als erster über den «Tuberkulinschwindel» im «Daily Telegraph» berichtete, ist auch nicht von uns erfunden.

Unsere Aufgabe bestand also darin, das Ensemble der historischen Figuren mit fiktiven Rollen zu ergänzen. Dabei konnten wir bei den Frauenfiguren nicht auf historisch verbürgte Vorbilder zurückgreifen, weil sie damals natürlich nur unbeachtet als Pflegepersonal oder Patienten in der Charité zu finden waren. Ida Lenze, Oberin Martha, Schwester Therese und die Wärterinnen Edith und Stine sind von uns frei erfunden. Doch ihre Konflikte sind es nicht: Das Verhältnis zwischen Diakonissen und weltlichen «Wärterinnen» war schwierig. Emanzipatorische Bestrebungen von Frauen wie Ida, Medizin studieren zu dürfen, wurden öffentlich angegriffen und lächerlich gemacht. Und die Hinterhofwelten à la Zille, aus denen Wärterin Stine entstammt, waren in Berlin traurige Realität. Unser erfundener Medizinstudent Georg Tischendorf muss stellvertretend für eine ganze Generation junger Männer am Vorabend von zwei Weltkriegen unter den Männlichkeitsritualen einer Burschenschaft und preußischem Pickelhaubengeist leiden.

Die Kaiserzeit ist ein filmisch nur wenig beleuchtetes Kapitel deutscher Geschichte. Kaiser Wilhelm wird kollektiv nur als alter Mann mit weißem Bart erinnert, der den 1. Weltkrieg verloren hat. Dass er im «Dreikaiserjahr» 1888 mit erst 29 Jahren, körperlich behindert und von seiner englischen Mutter ungeliebt, den Kaiserthron bestieg, ist wenig im allgemeinen Bewusstsein. Vor den Katastrophen des 20. Jahrhunderts erlebte das Land unter Wilhelm II. eine Friedenszeit von 43 Jahren: mit bahnbrechenden Erfindungen, industrieller Umwälzung des Arbeitslebens, erstarkendem bürgerlichen Selbstbewusstsein, Demokratisierung der Politik und beginnender Emanzipation der Frau.

Die Charité bietet einen idealen erzählerischen Mikrokosmos, doch nicht nur als Spiegel der Gesellschaft während der Kaiserzeit. Es gibt noch viel Stoff in ihr zu entdecken. Das Klinikgelände am Ufer der Spree wurde vom napoleonischen Heer ebenso überrollt wie hundertfünfzig Jahre später von der Roten Armee. Nicht nur das Stadtschloss der preußischen Könige liegt in Sichtweite, sondern auch Reichstag und Führerbunker. Aus den Fenstern der Charité konnte man zusehen, wie die Berliner Mauer gebaut wurde und wie sie 28 Jahre später fiel. Unter ihrem Dach spielte sich alles ab: Krieg und Frieden, Heilung und Tod, selbstlose Forschung und grausame Menschenversuche. Menschen kommen und gehen - das Haus und sein genius loci bleiben. Es bleibt noch viel zu erzählen…

Text: Dorothee Schön und Sabine Thor-Wiedemann

Dorothee Schön

Dorothee Schön

Dorothee Schön, 1961 geboren in Bonn.

Studium an der Hochschule für Fernsehen und Film in München.

Seit 1985 freie Drehbuchautorin von inzwischen über 25 Filmen, davon viele für die Reihe "Tatort".

Dorothee Schön erhielt für den Fernsehfilm «Frau Böhm sagt Nein» den Grimme-Preis, den Ernst-Schneider-Preis und den 3Sat-Zuschauerpreis; «Der letzte schöne Tag» wurde 2012 für den Deutschen Fernsehpreis nominiert und neben vielen weiteren Preisen erhielt Dorothee Schön für dieses Drama 2013 erneut den Grimme-Preis. Jeweils ein Jahr später war «Der Minister» für den Deutschen Fernsehpreis bzw. für den Grimme-Preis nominiert.

Dorothee Schön ist Mitglied der deutschen Filmakademie und lebt in Ravensburg.

Dr. Sabine Thor-Wiedemann

Dr. Sabine Thor-Wiedemann

Sabine Thor-Wiedemann promovierte an der Universität Ulm in Medizin und war danach einige Zeit in einer psychiatrischen Klinik in Norwegen als Ärztin tätig. Seit 1991 arbeitet sie freiberuflich als Medizinjournalistin für Fach- und Publikumsmedien sowie als Sach- und Kinderbuchautorin. 2008 erhielt sie den International Luminous Award für die Medizinreportage «Survival of the Luckiest – Überleben Glückssache».

 

Als Quereinsteigerin kam sie zum Film und schrieb gemeinsam mit Dorothee Schön die Drehbücher der 1. und 2. Staffel der erfolgreichen historischen Spielfilmserie «Charité».

 

Die Serie erhielt zahlreiche Preise und Preisnominierungen (u.a. nominiert für den International Emmy Award 2020; Jupiter Award 2020; nominiert für den Deutschen Fernsehpreis 2018; Österreichischer Filmpreis «Romy» 2018)