«Tschick» - Ein Film von Fatih Akin. Ein Interview

Szene aus «Tschick»
© Studiocanal GmbH / Reiner Bajo

Fatih Akin ist ein Autorenfilmer, fast ausnahmslos verfilmst Du eigene Stoffe. «Tschick» ist Deine erste Literaturverfilmung.

Es gibt zwei, drei Schlüsselsequenzen im Roman, danach wusste ich: Das will ich verfilmen. Tatjana, die dem Helden das Herz bricht, das kenne ich sehr gut aus meiner eigenen Jugend: Ich war als 14jähriger unheimlich verliebt in eine Mitschülerin, die nichts von mir wissen wollte. Das Erlebnis der abgewiesenen Liebe als Teenager ist bestimmt einer der Gründe, warum ich überhaupt Filmemacher geworden bin, so wie in dem Song der «Ärzte»: «Eines Tages werde ich mich rächen.» Ein anderer Moment: Wie Tschick und Maik in den Himmel schauen und darüber philosophieren, ob es noch jemanden da draußen gibt. Oder der Dialog Maik und Isa am Steg. Als ich das gelesen habe, da war mir Herrndorf sehr nahe, und ich habe gedacht: Das will ich inszenieren.

Ich liebe Coming-of-Age-Filme, «Stand By Me», «Crazy» oder «The Breakfast Club». «Nordsee ist Mordsee» von Hark Bohm gehört zu meinen Lieblingsfilmen. «Huckleberry Finn» habe ich mit 14 gelesen, übrigens weit besser als «Tom Sawyer». In meiner Jugend waren Bücher und Filme meine Freunde – niemand versteht mich, aber diese Bücher, diese Filme, da fand ich mich wieder.

Und dann kam im Sommer dieser Anruf: In sieben Wochen wird gedreht. Ich habe das Angebot, «Tschick» zu verfilmen, an einem Mittwoch bekommen, und am Sonntag musste ich mich entschieden haben, denn am Montag darauf sollte mein erster Arbeitstag sein. Das hat mich ganz schön aus der Bahn geworfen. Normalerweise hätte ich mich nie darauf eingelassen – aber es ging um «Tschick».

Der Roman ist filmisch geschrieben, ein literarisches Roadmovie. Wolfgang Herrndorf war ein Cineast, und er orientierte sich bei «Tschick» an der Struktur der sog. Heldenreise, wie sie in Drehbuchmanuals steht.

«Als Erstes ist da der Geruch von Blut und Kaffee.» So beginnt der Roman, einen besseren Anfang kann man sich gar nicht denken. Aber so filmisch das Buch auch ist, wir haben erst den Roman noch einmal zerlegt und uns gefragt: Was wollen wir im Film sehen, was nicht? Wir haben ganz klassisch blaue, gelbe und rote Karteikarten an die Wand gesteckt. Neues Material wollten wir nicht hereinbringen, sondern aus dem vorhandenen die Essenz herausarbeiten. Das funktionierte sehr lange gut, doch das letzte Drittel des Romans, ab der Begegnung mit Fricke, fand ich problematisch für den Film. Die Dramaturgie löst sich auf, Szenen werden additiv aneinandergereiht, es wirkt anekdotisch und doppelt sich. Maik und Tschick bauen einen Unfall, die nette Sprachtherapeutin bringt sie ins Krankenhaus, dort gibt es nachts um vier dieses legendäre Telefonat mit «Tante Mona», sie flüchten aus dem Krankenhaus, der total verbeulte, trotzdem noch fahrtüchtige Lada steht auf dem Krankenhaus-Parkplatz, am nächsten Morgen sind sie wieder auf der Autobahn und bauen noch einen Unfall. Im Film musste das anders laufen und alles auf den einen Unfall mit dem Schweinetransporter zusteuern.

Hier weicht der Film auf der äußeren Handlungsebene stark vom Roman ab, doch die Stationen der inneren Reise des Helden seid ihr in einem veränderten Setting genauso abgefahren.

Die Brücke wird im Roman beschrieben als das Ende der Welt. Waste Land. So etwas haben wir gesucht, u.a. in einem Tagebau, irgendwo im Osten, wo es riesige abgebaute Flächen gibt. Aber keine Brücken. Im Harz gab es eine Brücke, 200 Meter Höhe, Wahnsinn, aber man konnte dort nicht ohne Absicherung drehen, alles musste angebunden werden, auch das Auto – kurz, es war unmöglich. Die Sümpfe kommen schon im Roman vor, und dann hatte Rainer Klausmann, mein Kameramann, die Idee, anstelle der Brücke einen Holzsteg zu bauen, ein bisschen wie bei «Lohn der Angst». (Ich bin mir sicher, dass Herrndorf «Lohn der Angst» gesehen und auch zitiert hat, wenn nicht in «Tschick», dann mit Sicherheit in «Sand».) Diese Sümpfe, wenn sie am Ende stecken bleiben, Bäume, nichts als Bäume, und Wasser, das ist das Ende der Welt, der Zivilisation. Eine Szenarie, wie in «Das Herz der Finsternis» von Joseph Conrad.

Dieser Strang ist neu, aber geknüpft wie der Handlungsknoten im Roman. Im Buch eilt die Sprachtherapeutin zum Unfallort und ihr Feuerlöscher fällt Tschick auf den Fuß, so dass er nicht mehr fahren kann. Im Film verletzt sich Tschick böse, als die beiden die Lücken im Steg flicken wollen und er auf einen Nagel tritt. Die Konsequenz ist dieselbe: «Ich kann so nicht Auto fahren.» Maik: «Aus. Hier endet die Geschichte.» Im Roman heißt es: «Die Reise war zu Ende.»

Ein Tiefpunkt – Ende vom zweiten Akt, das ist klassische Dramaturgie. – Es sind eigentlich vier ineinander geschobene Szenen: die gefährliche Fahrt über die Brücke, Tschick verletzt sich und wird verarztet, Tschick outet sich, Maik überwindet sich und übernimmt das Steuer.

Es gibt noch eine wichtige Änderung: der Schluss. Der Film endet nicht wie der Roman mit der Szene, wie die Mutter zusammen mit Maik das Mobiliar in den Swimmingpool schmeißt.

Wir haben gefühlt, nein, wir wussten: Der Film kann nicht so enden. Die Geschichte zwischen Maik und seiner Mutter ist nicht die Hauptachse des Films, das ist Maik und Tschick. Es muss mit ihnen aufhören, mit ihnen und Isa meinetwegen.

Es ist ein offener, zugleich hoffnungsfroher Schluss.

Wenn Filme am Ende alle Probleme erledigen und der Zuschauer satt und zufrieden nach Hause geht, finde ich es schade. Tschick kommt aus dem Nichts, und er geht in das Nichts. Aber wir wissen, dass es ihm gut geht: Um einen wie Tschick braucht man sich keine Sorgen machen.

Du hast ein Projekt zwei Monate vor Drehbeginn übernommen. Da gab es nicht nur Drehbuch-Probleme zu lösen.

Mein Vorgänger hatte Maik besetzt mit einem 18-Jährigen, der zwar aussah wie 16, aber doch nicht so, dass ihn jeder Tankwart fragen würde: Eh Junge, wie alt bist zu eigentlich? Die Kids dürfen nicht mit dem Auto erwischt werden, das ist die große Gefahr, die sie auf ihrem Trip ständig begleitet. Sie sind einfach zu jung, das muss man ihnen ansehen.

Am allerersten Arbeitstag kam Jacqueline Rietz, die das Kindercasting gemacht hat, zu mir: Tschick sei schwierig zu besetzen, aber einer sei dabei, der habe sich selber zu Hause gefilmt. Er hatte die Szene gespielt, wo Tschick Maik sagt, dass er schwul ist. Ich habe das gesehen und wusste: Das ist er. Als die ersten Fotos mit Anand Batbileg Chuluunbaatar als Tschick kursierten, haben einige Leser bei Facebook gepostet: Eh, ich denke, der soll Russe sein. Die haben den Roman nicht richtig gelesen. Herrndorf schreibt: «Außerdem hatte er statt Augen Schlitze» und: «Sah aus wie ein Mongole».

Dann haben wir ewig keinen Maik gefunden. Bis eine Woche vor Drehbeginn. Jacquline hatte für eine Nebenrolle in der Klasse Tristan Göbel vorgeschlagen. Ich kannte ihn aus dem Kino: Mit meinem Sohn hatte ich den Kinderfilm «Winnetous Sohn» gesehen. Tristan ist mir gleich aufgefallen. Der Junge hat ein ganz besonderes, klassisches Gesicht. Hübsch, aber kein Teenieschwarm aus der «Bravo». Gutaussehend, aber kein Beau. Melancholie, aber trotzdem Witz.

Aber Tristan war so klein, eben noch ein Kind. Ich dachte mir: Er hat die Unsicherheit, die Maik haben muss, andererseits eine solche Kraft, die ihn in Extremsituationen – und ein aufwändiger Dreh mit einer großen Crew und 40 Drehtagen ist eine Extremsituation – wachsen lässt. Es ist genauso gekommen, wie ich es prophezeit hatte. In der ersten Woche drehten wir die Szene, wie Maik mit Isa am See knutscht, und am nächsten Tag ruft Andrew Bird, mein Cutter, mich aus dem Schneideraum an: Was habt ihr mit dem Jungen gemacht? Der ist älter geworden, schau‘ dir mal seinen Bart an. Da sind seine Hormone explodiert, der ist dann auch in der Länge gewachsen. Da hast du Coming of Age, buchstäblich vor der Kamera.

Was ist mit der kratzbürstigen Isa?

Isa muss etwas Burschikos haben, zugleich etwas Sinnliches Die Figur hat im Roman eine gewisse Künstlichkeit. Wer ist das, wo kommt sie her, das wird in dem anderen Buch geschildert. Ich habe Mercedes Müller gesagt: Lies «Bilder deiner großen Liebe». Du bist aus der Klappse abgehauen, du hast definitiv das Borderline-Syndrom. Dass Isa in der Kiste eine Kanone hat, steht in Herrndorfs letztem Buch, das er nicht mehr zu Ende schreiben konnte.

Ich versuche, mich in jede Figur hineinzuversetzen, auch in die Mutter. Wie kleidet sie sich, was hört sie für Musik? Wohin geht sie, um sich zu betrinken? Die Szene, in der Maik seine Mutter abholt, gibt es ja im Roman nicht,. Geht sie in eine Bar, so wie Faye Dunaway in «Barfly»? Oder geht sie in eine Kneipe irgendwo in Hellersdorf, in «Ullis Bierstube», wo nur Nazis rumsitzen? Beides passt nicht wirklich zu ihr. Ein Eiscafé ist keine Kneipe, aber dort gibt es Amaretto … das kann funktionieren.

Das Beispiel zeigt, Du strebst Glaubwürdigkeit an. Andererseits gibt es im Roman skurrile Szenarien und bizarre Figuren, ich denke nur an Adel auf den Radel oder die Risipisi-Familie.

Man hätte daraus eine Tim-Burton-Nummer machen können, dann kriegen alle Fake-Gebisse usw. Ich habe mich gegen eine überhöhte Künstlichkeit entschieden – ohne Sinn, wie Tschick sagen würde. Ich wollte dem Roman gerecht werden, seinen Millionen Lesern, aber auch meinem Werk.

Der Roman ist eine Ich-Erzählung: Maik berichtet und kommentiert. Auch der Film hat diese Erzählerperspektive: Maik ist in fast jeder Szene präsent, auch sehen wir in kurzen Szenen seine Tagträume.

Im Drehbuch gab es ursprünglich kein Voice-over. Mein Ehrgeiz war, die Gedanken des Helden allein auf der szenischen Ebene transportieren.

Die meisten Literaturverfilmungen zitieren den Roman im Off. Damit ist, dank einiger Perlen seiner Formulierungskunst, die Stimme des Autors im Film präsent.

Wie gesagt: Im Drehbuch standen gar keine Voice-over-Texte, schließlich sollte die Geschichte visuell funktionieren und nicht einen geschriebenen Text bebildern. Wir haben uns nicht auf den literarischen Text verlassen, sondern wollten frei sein und haben den Film auch so fertiggestellt. Es war richtig und wichtig, diesen Weg zu gehen, aber es gab, als wir den Rohschnitt anschauten, Probleme, speziell am Anfang und am Ende. Im Schneideraum haben wir – der Drehbuchautor Lars Hubrich, ein Freund und Vertrauter Herrndorfs, der Produzent Marco Mehlitz, Hark Bohm, unser künstlerischer Berater, und ich – lange diskutiert und dann ganz gezielt an bestimmten Stellen Voice-over eingesetzt. Danach war ich überzeugt: Jetzt ist der Film fertig, jetzt hat er Seele.

Das Gespräch führte Michael Töteberg

Zum Kinostart erscheint der Roman von Wolfgang Herrndorf in einer Neuausgabe mit einem Anhang zum Film mit Texten und Fotos. Das Drehbuch von Lars Hubrich, im Anhang ein Beitrag von Fatih Akin, ist als E-Book in der Reihe rowohlt rotation nachzulesen. Ebenfalls neu und nur als E-Book bei Rowohlt: «Wann hat es ‹Tschick› gemacht?» enthält alle Gespräche und Interviews, die Herrndorf gegeben hat.