Im Kino: Nils Mohls und Ilker Çataks «Es gilt das gesprochene Wort»

Nach seiner Weltpremiere auf dem diesjährigen Filmfest München als Eröffnungsfilm der Reihe «Neues Deutsches Kino» ist «Es gilt das gesprochene Wort» nun in den deutschen Kinos zu sehen. Das Drehbuch schrieben Nils Mohl und Regisseur Ilker Çatak. Entstanden ist der Film als Koproduktion der if… Productions (Ingo Fliess) mit Loin Derrière l’Oural, Paris (Koproduzent: Xavier Delmas), dem ZDF (Redaktion: Alexandra Staib und Caroline von Senden) und arte bzw. ZDF/arte (Redaktion: Olaf Grunert und Barbara Häbe).

Es gilt das gesprochene Wort
© X Verleih

Es sind sehr unterschiedliche Lebensrealitäten, aus denen die beiden Hauptfiguren stammen: Da ist der junge Kurde Baran (Oğulcan Arman Uslu), der von einer Zukunft fernab der Türkei träumt und sich als Tellerwäscher in einer Strandbar über Wasser hält. Marion (Anne Ratte-Polle) hingegen kommt aus Deutschland, ist Anfang vierzig und als Pilotin beruflich erfolgreich – bis eine Krebsdiagnose ihr Leben auf den Kopf stellt. Zur Ablenkung reist sie mit ihrem Liebhaber nach Marmaris. Dort, am Strand des türkischen Urlaubsorts, lernt die pragmatische Marion den charmanten Baran kennen, der in einer Bar nicht nur fürs Tellerwaschen, sondern insbesondere für das Umwerben ausländischer Touristinnen zuständig ist. Als er sie völlig überraschend darum bittet, eine Scheinehe mit ihm einzugehen und ihn mit nach Deutschland zu nehmen, willigt sie nach kurzer Skepsis schließlich ein. Und so beginnt nicht nur der von Baran langersehnte Neustart im Westen – in Hamburg –, sondern, ganz zaghaft, auch eine unwahrscheinliche Liebesgeschichte. Doch irgendwann müssen Marion und Baran eine Entscheidung treffen: Welche ihrer Träume möchten sie verfolgen? Und können sie das überhaupt gemeinsam tun?

Es ist eine der großen Stärken des Autoren-Duos Mohl und Çatak, dass der Film wichtige gesellschaftliche Themen wie Immigration und Integration zwar ganz selbstverständlich behandelt, sie aber nicht dogmatisiert. «Wovon er erzählen will, ist die menschliche Distanz – und das Wagnis, sie aufzugeben. Ganz gegen individuelle und kollektive Vorurteile, gegen die antrainierte emotionale Schutzschicht, gegen jede Vernunft.» (Annett Scheffel, «Süddeutsche Zeitung»)

«Es gilt das gesprochene Wort» wird am 28., 29. und 31. August auf dem 15. Festival des Deutschen Films in Ludwigshafen am Rhein in der Kategorie «stilbewusst erzählt» zu sehen sein.

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Zum Kinostart dies kraftvollen Films hat unser Drehbuchautor Nils Mohl eine Reflexion über die Entstehung der Geschichte von Marion und Baran, die Relevanz des Hauptschauplatzes Türkei sowie eine besonders populäre Frage von Journalisten an Drehbuchautoren verfasst...

Zwischen Welten

Beliebte Frage an Drehbuchautoren: Wie war es für Sie, den Film dann das erste Mal zu sehen? Hinter der Neugier kann investigative Gerissenheit stecken. Na, hat der Regisseur noch viel verändert, gar kaputt gemacht aus Ihrer Sicht? Hinter der Neugier können auch eine gewisse Einfallslosigkeit, versteckte Häme oder eine Art indirekter Glückwunsch stecken. Kennt man zum Beispiel auch von Fußballreportern, wenn die nach dem Spiel die kickenden Stars fragen, wie sie sich jetzt fühlen. Gequältes Lächeln nach Niederlagen als Antwort. Triumphales Grinsen nach dem Sieg. Garniert mit ein paar mehr oder weniger gewitzten Worthülsen.
Die Neugier hat fraglos ihre Berechtigung. Bekanntlich endet der Einfluss von Autoren auf einen Film in der Regel mit Beginn der Dreharbeiten. Für die Geschichte scheint zu diesem Zeitpunkt der Weg vom Papier bis zur Leinwand noch irre weit zu sein. Schauspieler, Kameraleute, Beleuchter, Ausstatter, Maskenbildner, Sounddesigner, Musiker, Cutter, VFX-ler etc. steuern noch eine Menge zum Endergebnis bei. Stimmt. Gut möglich also, dass sich der Verfasser der Vorlage am Ende die Augen reibt – verblüfft, erstaunt, zornig oder beglückt. Je nachdem.

Im Fall von «Es gilt das gesprochene Wort» war es für mich trotzdem ganz anders. Das mag ein wenig schräg klingen, aber das erste Mal habe ich den Film gesehen, noch lange vor der Premiere beim Filmfest München. Sogar noch lange bevor die erste Klappe geschlagen wurde. Im September 2017, ungefähr ein Jahr vor Drehbeginn.
Regisseur Ilker Çatak hatte Kameramann Florian Mag und mich nach Marmaris eingeladen. Unser Produzent Ingo Fliess machte die Reise möglich, ohne mit der Wimper zu zucken – und verstand in all seiner Klugheit sofort, warum diese Recherchetour für uns nötig war.
Ich muss dazu sagen: Ich bin nie ein großer Freund von Recherchen gewesen. Ich denke nicht, dass die Wirklichkeit die besseren oder gar besten Geschichten schreibt. Bräuchte man dann überhaupt noch Geschichten? Aber manchmal schadet es natürlich nicht, an der Wirklichkeit den Blick für das Außergewöhnliche zu schulen.

Und was Marmaris angeht: Es herrscht hier durchaus eine besondere Atmosphäre, an diesem schillernden Urlaubsort der türkischen Riviera. Ich erinnere mich: Die Anreise aus Deutschland ist nicht ohne Tücken. Vom Flughafen Bodrum bringt mich ein Bus in die Provinzhauptstadt Muğla. Draußen meist ockerfarbene Mondlandschaft und nur ganz ab und zu einsame, stark verzweigte Bäume, die ein wenig Schatten werfen. Sonne summt auf mich herab, als ich an dieser Zwischenstation aussteige. Ein Blau über mir, noch unerreichbarer und greller als alles, was man sonst so kennt.
In Muğla besteige ich den Dolmuş, und der prall gefüllte Kleinbus, in dem der Gehilfe des Fahrers das Geld einsammelt, bringt mich das letzte Stück Richtung Süden. Es gibt nur diesen einen Weg nach Marmaris. Und ich stelle beim Blick aus dem Fenster fest, wie sich ganz plötzlich die Landschaft ändert.
Pinien. Die Strecke wird kurviger, es geht auf und ab. Und dann, am höchsten Punkt, blitzt das Meer in der Ferne auf. Felshügel mit üppigen Wäldern umranden die tief eingeschnittene Bucht. Das ganze Hinterland grünt. Eine höhere Luftfeuchtigkeit als anderswo an der Küste macht es möglich. Die Hitze treibt den Schweiß aus allen Poren.
Unterwegs gibt es dann plötzlich eine Militärkontrolle aus dem Nichts. Pässe werden eingesammelt. Rund ein Jahr zuvor gab es diesen sogenannten Putschversuch gegen den Präsidenten in der Türkei. Der Journalist Deniz Yücel aus Berlin sitzt außerdem weiter in Haft, seit mehr als einem halben Jahr bereits. Und nicht nur er natürlich. Ich frage mich, während ich in dem stickigen Bus auf die Rückkehr der Soldaten warte, wie man in solchen Zeiten wohl am besten eine deutsch-türkische Liebesgeschichte erzählt? Fühle mich für Minuten schutzlos und ausgeliefert. Aber dann ist der Spuk vorbei, und der Dolmuş setzt seine Fahrt fort.
Es ist früher Abend bei meiner Ankunft in Marmaris. Honigfarbenes Licht. Die Sonne verflüssigt sich zu einem Kupferfleck. Der Gebetsruf des Muezzins hebt an, auf Arabisch, in der Sprache des Koran, der Gesang steigt und fällt, die Lautsprecher tragen die Tonfolgen aus langgezogenen Silben durch die Straßen. Man meint zu glauben, dass der Rufer die Augen geschlossen hält, versunken in die Verkündigung. Ich atme tief die Luft ein. Das Meer riecht, wie ein Meer riechen muss. So ist es gewesen.

Viel Fantasie braucht man nicht, um sich vorzustellen, dass auch Baran, die eine Hauptfigur unserer Geschichte, das Gleiche erlebt, als er zum ersten Mal einen Fuß nach Marmaris setzt. In staubigen Militärstiefeln. Andere Schuhe besitzt er nicht. Wie ich kämpft er sich über die Hauptstraße, als er die Stadt erkundet. Die Karossen dutzender Autos strahlen die Wärme zurück, letztes Tageslicht glänzt in den Außenspiegeln. Wie ich sieht er die Hotels an der Strandpromenade. Gebäude wie Riesentorten in der Auslage einer Luxuskonditorei. Weiß, hoch aufgetürmt, verziert mit bunten Logos, dicht an dicht sind sie aufgereiht. Und dann ist da auch noch die Marina mit ihren Liegeplätzen für die Yachten und Segelboote. Nicht weit von der Atatürk-Statue auch die Attrappe eines Piratenschiffes.
Nicht zuletzt deshalb treffen Ilker, Florian und ich uns hier, um die abstruse Seite des touristischen Treibens einmal aus nächster Nähe zu erleben.
Milieustudie. Wir wollen die Geschichte eines kurdischen Gigolos und einer deutschen Pilotin erzählen. Eine Scheinehe kettet sie aneinander. Er: jung und auf der Suche nach einem besseren Leben. Sie: 40 plus und in einer existenziellen Krise. Er: angetrieben von diffusen Träumen. Sie: beherrscht von antrainierter Vernunft. Und dann wird aus dem Deal natürlich doch mehr, kommen Gefühle ins Spiel…

Im September 2017 macht uns für die Bucharbeit besonders eine Sache größere Sorgen. Wie können wir das exotische Panorama und die bizarre Kulisse der Gigolo-Welt am besten erzählen, ohne uns selbst ein Bein zu stellen? Die Fallen lauern an verschiedenen Stellen. Nicht zuletzt treibt uns bald die Frage um, ob wir überhaupt etwas Adäquates in Hamburg entgegenzusetzen haben? Fast das gesamte erste Drittel der Geschichte spielt in der Türkei. Und der Schauwert eines Ortes wie Marmaris ist hoch.
Ruckzuck füllt sich mein weißes Notizheftchen, als wir abends die Bars abklappern, die für unsere Drehbuchschauplätze Modell stehen könnten. Wo Urlauberinnen und Einheimische Wohlstand und Körper zu Markte tragen, Choreographien und Tauschrituale abgespult werden, hemmungslos offen, namenlos traurig und zum Teil dabei auch schreiend komisch.
Immer nachts, wenn das Blau des Meeres erloschen ist, Menschen und Palmen zu Schatten geworden sind, hebt das Schauspiel an. Etwas abseits der Promenade und Hotelterrassen mit ihren hellen Sonnendächern hat es uns ein Areal besonders angetan. Wir taufen es kurzerhand die Hölle. Vier Bars in unmittelbarer Nachbarschaft beschallen dort mit ohrenquälender Discomusik die Nacht. Die Kommunikation beschränkt sich auf einfachste Sprachbrocken und Gesten. Buntes Licht tanzt über sonnengebadete Haut.
Die Europäerinnen: verwelkte Gesichter, welkendes Fleisch. Getöntes Haar, stumpf wie Puppenschöpfe. Sie richten ihre BHs an den nackten Schultern. Ziehen mit zu viel Rot auf den Lippen an Strohhalmen und wippen die Köpfe im Takt, als wären sie noch junge Dinger. Wenn sie aber aufstehen, ist der Gang leicht schwankend und die Motorik altersbedingt eher eckig.
Die anatolischen Männer ignorieren das oder helfen galant aus. Frisch rasiert, mit vollem, dunklem Haar. Aber die Gesichter früh gealterter Kinder. Gestalten oft wie Jockeys. Drahtig und beweglich in der Hüfte. Sie tragen alle das gleiche Poloshirt. Eng liegt es am Körper an, Teil ihrer Uniform. Sie umgarnen die Europäerinnen, als wären sie keine betagten, schwankenden Frauen, sondern wirklich noch junge Dinger.
Anfangs meint man deshalb kurz, nur man selbst würde sehen, was die Beteiligten nicht zu sehen scheinen: Altersunterschiede, niedere Motive, Geifer und Gier. Wir schauen und staunen. Benutzt die da drüben wirklich ein Asthma- Spray auf der Tanzfläche? Und hier am Nebentisch: Eine ca. 70-jährige leckt einem jungen Kerl mit der Zunge über die Wange…
Muss alles noch in den Film.

Aufgewühlt und elektrisiert saugen wir die Eindrücke auf. Wir sehen die Szenen bereits vor uns, obwohl wir nicht mal unseren Hauptdarsteller kennen. Es ist mehr als eine Ahnung: Die Marmaris-Sequenz wird grandios …
Am nächsten Tag aber schlendern wir mit Katerstimmung durch den Ort, obwohl wir nur ein Anstandsbier zur Tarnung getrunken haben. Die alte Sorge: Was für eine Welt kann man dieser Welt entgegenstellen?
Praktisch mit jeder neuen Entdeckung in den nächsten Tagen wird es schlimmer. Wir finden heraus: Einige der Bar-Jungs benutzen Laser-Pointer, um einander Zeichen zu geben: Bedienung für Tisch XY, Polizei kommt, Musik runterpegeln, hey, DJ, nicht einpennen. Gegen diese Welt aus Krach, Trash und Theater wirkt die Welt, aus der wir kommen, einfach öd und langweilig.
Am letzten Abend dann erhaschen wir auf dem Weg zum Turmcafé in der Altstadt zufällig noch einen Blick in eine der tristen Gigolo-Unterkünfte: Doppelstockbetten mit lakenlosen, ranzigen Matratzen, Funzellicht von einer nackten Glühbirne an der Decke. Es gibt diese oberflächliche Poesie des Elends. Die aber natürlich nur wahrnimmt, wer nicht in diesem Elend lebt.
Genau das ist der Punkt: Marmaris bietet als Kulisse im Grunde nichts Spektakuläreres als Hamburg. Oder anders gesagt: Wie spektakulär muss es sein, Hamburg zu erleben, wenn man in seinem Leben zuvor von Anatolien nur bis Marmaris gekommen ist? Die oberflächliche Poesie des Wohlstands in der privilegierten Welt – gibt es die nicht auch?
Wenn ja, manifestiert sie sich natürlich nicht nur in Schauplätzen. Sie wird zum Beispiel auch in sozialen Strukturen, im Arbeitsleben und nicht zuletzt im Wetter und so weiter anschaulich. Letztlich alles eine Frage der Perspektive. Und der Kontraste.
Weil ein echter Liebesfilm von Natur aus immer zwei Perspektiven bietet, hätte man sich in diesem einen Punkt vielleicht überhaupt keine Sorgen machen müssen. Nach meiner Rückkehr aus der Türkei und beim Sortieren der Eindrücke beginne ich das zumindest für mich langsam zu erahnen.

Laub liegt Ende September in Hamburg auf den Straßen. Schattenlose Wesen ducken sich am kühlen Morgen unter dem bedeckten Himmel hindurch zur Arbeit. Verkehr stockt geordnet an den Kreuzungen. Hustende und schnupfende Menschen überqueren vor den Autos die Fahrbahn bei Grün. Die Erkältungszeit beginnt. Ein paar Tage nach meiner Rückkehr aus der Türkei fällt mir beim Radfahren auf einmal das Läuten von Kirchenglocken auf.
Zu Deutschland finde ich in meinem Notizheft an einer Stelle den Satz: «Die kennen hier nur Länder, auf die sie herabblicken.» Vermutlich zu sperrig, um Eingang ins Drehbuch zu finden. Und ich frage mich eine Weile auch, ob er überhaupt stimmt. Denn sind die Deutschen als Reiseweltmeister nicht durchaus in der Lage, andere Länder zu wertschätzen, zumindest ihre geographischen und klimatischen Vorzüge?
Wie in der Geschichte die Kluft zwischen den beiden Figuren aus zwei Welten nicht einfach überwunden werden kann, weil das echter Käse wäre – ist es auch gut und wichtig, dass es eine erkennbare Kluft zwischen diesen Welten gibt, aus denen sie kommen. Welten, die jede auf ihre Weise spektakulär sind. Vor allem für die Neulinge in diesen Welten.
Und das wiederum ist das Gute an Geschichten: In ihren Welten sind wir ja alle erst einmal Neulinge.

Trotzdem: Ich erinnere mich, dass nach der Türkeireise die Arbeit am Drehbuch in eine mittelschwere Krise gerät. Aber zugleich eben auch die Phase beginnt, wo wir richtig anfangen, den Film im Kopf zu sehen. Tatsächlich sieht man einen Film ja bereits zigmal, bevor er gedreht wird, wieder und wieder neu. Nicht nur beim Schreiben. Und artige Autoren bekommen auch Einblick in die Dailies, das gedrehte Rohmaterial. Und sie sehen auch frühe Schnittfassungen. Wenn überhaupt, dann gibt es vielleicht bei einer Premiere nur den Schock des Endgültigen. Weil die Geschichte nun eine abschließende Gestalt gefunden hat, nun alles so bleibt, wie es ist.
In diesem Fall durchaus kein Grund zur Sorge. «Es gilt das gesprochene Wort» löst die Hoffnungen ein, die wir beim Schreiben an den Stoff hatten. Ich meine sogar, keine der Versionen, die ich vorab im Kopf gesehen habe, hat mit der nun fertigen mithalten können. Und so sollte es ja auch sein. Die Antwort, auf die beliebte Frage, wie es denn war, den Film das erste Mal zu sehen, lautet also: Ich freue mich schon auf das zweite und dritte Gelegenheit – und darüber, dass sich nichts mehr ändert.

Nils Mohl, 2019